Ingeburg Geißler ist heute 92 Jahre alt und lebt in Berlin. Seit vielen Jahren geht die hochbetagte Rentnerin in Berliner Schulen und erzählt ihre Geschichte, die sie als Jüdin während ihrer Kindheit und Jugend im nationalsozialistischen Deutschland erlebt hat.
„Man sagte, ich fahre zu einer Umschulung und komme wieder zurück“.
Ingeburg Geißler wird 1932 in Erfurt geboren, Ihr Vater ist Jude, die Mutter Christin. Vater Heribert arbeitet in der Blumenstadt als Gärtner, Mutter Elfriede als kaufmännische Angestellte. 1933 beschließen die Eltern nach Palästina aus zu-wandern, kehren allerdings nach wenigen Monaten wieder zurück, eine folgenschwere Entscheidung, denn Hitler ist bereits an der Macht. Die Eltern führen ein bescheidenes Leben. Da beide Eltern viel arbeiten müssen, verbringt Ingeburg viel Zeit bei ihrer Großtante in Marburg, einem kleinen Dorf nahe Erfurt. Die kleinen alltäglichen Sorgen werden von der einen große Sorge, der Sorge um den jüdischen Ehemann und Vater überschattet. In der Hoffnung, die damals fünfjährige Tochter und die Mutter vor Verfolgung schützen zu können, beschließen die Eltern, sich scheiden zu lassen. Der Vater soll ins Ausland gehen und die Familie bald nachholen. Die Reichspogromnacht 1938 verhindert diesen Plan.
Vater Heribert wird verhaftet und nach Buchenwald verschleppt. Er muss versichern, das Land sofort zu verlassen und kommt nur deshalb frei.
Im Dezember 1938 flieht er nach Shanghai. Die Mutter zieht nach Magdeburg, sucht Schutz in der Anonymität, die Tochter bleibt bei der Tante. Noch im selben Jahr wird Ingeburg Geißler eingeschult, nur zwei Jahre später darf sie die Schule nicht mehr betreten. Als sogenannte „Halbjüdin“ muss sie In der Öffentlichkeit den gelben Davidstern tragen, sie wird ausgegrenzt und mit Steinen beworfen.
Im Januar 1945 werden die verbliebenen Juden aus Erfurt und Umgebung aufgefordert, sich zu sammeln. Unter Ihnen die damals 12jährige Ingeburg. Mit dem Zug geht es nach Theresienstadt, ins Ghetto. Ingeburg ist die Jüngste und erfährt auf dem Transport, welches Schicksal ihr droht. In ihrer Verzweiflung schreibt sie eine Abschiedskarte und wirft sie an einem Bahnhof aus dem Zug. Die Postkarte kommt tatsächlich bei der Tante an.
Wenige Wochen nach der Ankunft in Theresienstadt wird das Vernichtungslager Ausschwitz von der Roten Armee befreit. Bis dahin dient Theresienstadt als Durchgangslager für die Todestransporte nach Ausschwitz. Mit dem Stopp dieser Transporte wird die Situation in Theresienstadt immer dramatischer. Totale Überfüllung, Massen-erschießungen, Ausbruch von Krankheiten und Epidemien wie Typhus bestimmen den Alltag im Ghetto. Mittendrin die junge Ingeburg Geißler.
Am 8. Mai 1945 erreichen erste Einheiten der Roten Armee das Ghetto und befreien Theresienstadt. Einen Monat später, am 9. Juni 1945, passiert ein Bus der Erfurter Verkehrsbetriebe das Ghetto. Angehörige der Erfurter Juden organisieren die Rückholung. Nach fünf Monaten Aufenthalt im KZ ist Ingeburg Geißler ein freier Mensch.
Sie geht wieder in das Dorf zu ihrer Tante zurück, besucht die Volksschule und schafft den Schulabschluss. Im Internat legt sie später das Abitur ab, will Juristin werden und bewirbt sich 1952 für ein Jurastudium an der Humboldt-Universität in Berlin. Sie heiratet, wird Mutter eines Sohnes und arbeitet als Juristin im Post- und Fernmeldewesen in Ost-Berlin.
Seit der Wende 89/90 spricht Ingeburg Geißler über ihre Geschichte, engagiert sich in der Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas und ist zu Besuch an Berliner Schulen. Die aktuelle Entwicklung in Deutschland und Europa, den Rechtsruck, die Fremdenfeindlichkeit, den wieder erstarkenden Antisemitismus betrachtet sie mit großer Sorge. Auf Einladung der Thüringer Staatskanzlei war Ingeburg Geißler erst vor kurzem wieder in Erfurt. Sie besuchte die Alte Synagoge, ging auf Spurensuche in Marbach und stellte sich auch dort den Fragen der Schüler.
So lange wie die Kraft und Energie der 92jährigen ausreichen, wird Ingeburg Geißler weiterhin vor Schülern sprechen.
„Frau Geißler hat mich mit einem Gefühl zurückgelassen, dass mich schweigen lässt. Es ist, als gäbe es keine Worte, die das beschreiben, was sie damals erlebt hat. Aber was ich weiß ist, dass sie uns alle zutiefst berührt hat. Wie, als wenn man einen Schalter umgelegt hat, von dem man gar nicht wusste, dass er existiert.
Wir sind dankbar für die Erfahrung, denn wir sind die Generation, die diese Wahrheit von Angesicht zu Angesicht übermittelt bekommen. Sie hat uns alle zum Denken angeregt. Auch, wenn das Geschehene schrecklich ist, sollte man die Menschen, die gelitten haben, die gestorben sind, nicht vergessen. Sie gehören geehrt.
Vielen Dank Frau Geißler, dass Sie Schüler und Schülerinnen, Lehrer und Lehrerinnen erzählen, was damals passiert ist. Danke für Ihre Offenheit, Ehrlichkeit und Entschlossenheit. Amelie Langstengel 9e
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www.stiftung-denkmal.de
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